Vorsichtige Schritte in ein neues Jahr
Das Wetter an diesem Neujahrsmorgen will so gar nicht zu unserer physischen Verfassung passen. Während draußen die Sonne unternehmungslustig von einem klaren blauen Himmel lacht, liegen wir, weder klar im Kopf noch unternehmungslustig, in unseren Betten und proben das Aufstehen.
Der letzte Abend des alten Jahres wirkt noch nach, und die Natur da draußen ist uns eindeutig ein paar Längen voraus.
Langsam machen wir uns fertig und gehen zum Frühstück, dessen Reich-haltigkeit heute in einem glatten Widerspruch zu unserem Appetit steht. Aber man kennt das ja, ein bißchen geht immer, und da bekanntlich der Appetit mit dem Essen kommt, geht auch bald schon ein bißchen mehr. Derart gestärkt, sind wir danach immerhin soweit, uns auf das Abenteuer eines Neujahrs-spazierganges im Schnee einzulassen. Der Kopf braucht schließlich frische Luft und der Körper Bewegung, da kann man auf einen etwas trägen Geist keine Rücksicht nehmen. An der Rezeption besorgen wir uns eine kleine Wanderkarte, wählen den blauen Weg, weil der uns in Länge, Verlauf und Farbe am meisten zusagt und maschieren los.
Gleich hinter dem Ort haben wir das Gefühl allein auf dieser Welt zu sein.
Alles ist still, unberührt und menschenleer. Nur ein riesiger weißer Teppich, der in der Sonne funkelt, als wäre er mit Abertausenden von Strasssteinchen bepudert, liegt vor uns. Es sieht märchenhaft schön aus. Felder, Wald und Wiese, alles ist in sattes Weiß gehüllt.
Vergeblich suchen wir allerdings einen Wegweiser, eine Markierung oder irgendeinen Anhaltspunkt, der sich mit unserer Karte vergleichen läßt. Nichts, nur verschneite Landschaft.
Vorsichtig setzten wir Schritt vor Schritt und sinken dabei mal tiefer, mal weniger tief in den Schnee ein. Was ist darunter? Straße, Feldweg, Geröll, Acker oder Wiese? Ist es glatt, matschig oder nass? Wer wasserdichte Schuhe hat, ist hier eindeutig im Vorteil, und ein Stock, wie ihn ältere Leute bei solchen Ausflügen bevorzugen, wäre jetzt auch nicht verkehrt. Aber so alt sind wir ja noch nicht, denke ich und komme prompt ins Rutschen. Gerade nochmal gut gegangen.
Vorsichtig geht es weiter, tastend, fühlend und sehr behutsam.
Eine Weggabelung und wieder keine Beschilderung. Wohin sollen wir gehen? Rechts, links oder den steilen Weg geradeaus? Wir entscheiden uns für rechts, weil es da am bequemsten aussieht und weil da, wo wir uns auf der Karte vermuten, rechts auch richtig wäre. Das war es vermutlich nicht, denn nun geht es querfeldein über eine undefinierbare, dick verschneite Fläche. Irgendwo unter uns gurgelt ein Wasser. Vielleicht ein Bach oder ein Teich? Jeder Schritt ist ein Schritt ins Ungewisse und spannender als der Vorherige. Inwischen haben auch unsere Hosen gut Wasser gezogen und sind bis Mitte Unterschenkel naß. Ein altes Gatter ist im Weg. Forsch will ich darüber steigen, stütze mich ab, das Teil gibt nach, und schon purzle ich kopfüber in den Schnee. Mein Mann lacht, ich fluche, und gemeinsam versuchen wir mich wieder aufzurichten. Es scheint nichts kaputt zu sein, alles tut nur ein bißchen weh, und die Hose ist jetzt noch ein bißchen nasser. Es kann also weiter gehen. Der Weg schlängelt sich jetzt geheimnisvoll durch den Winterwald. Hier und da ein paar Wildspuren, aber noch immer gibt es keine Beschilderung, nur eine Karte, die viele Möglichkeiten zuläßt. So geht es eine ganze Zeit lang, bis uns plötzlich nach einer Kehre unsere eigenen Fußspuren entgegenkommen.
Im Kreis gelaufen! So etwas soll vorkommen. Immerhin wissen wir jetzt, wie wir wieder zurück in den Ort finden. Wir müssen nur unserer Spur folgen.
Mein Mann hat nasse Füße und ich ein paar blaue Flecken, nasse Hosenbeine haben wir beide, aber es war ein schöner Weg, so ganz allein zu zweit durch diesen verschneiten Winterwald.
Nicht immer zu wissen, woran man ist, wo einen der Weg hinführt, vorsichtiges Herantasten, Innehalten, sich irren, nasse Füße bekommen, Wege suchen, diskutieren, überlegen, weitergehen im gleichen Tempo und im gleichen Rhythmus, genießen, gespannt sein was kommt, ausrutschen, hinfallen, aufstehen, sich gegenseitig helfen, lachen, stöhnen, einander bei der Hand nehmen, im Kreis laufen, den Weg wieder finden . . .
Ein Spaziergang wie der Trailer für ein Neues Jahr…
Toll, ein wirklich guter „Trailer“ für jedes Jahr!
Eine schöne Geschichte, gut zu lesen, kurzweilig und sehr sehr nett geschrieben… Ich bin gespannt auf die nächsten Geschichten. Danke.
Ich warte schon auf weitere „Tastenblicke“.