Mein Ideal und ich
Ich bin wie ich bin und wie mich alle kennen und mehr oder weniger mögen.
Das ist die eine Seite. Die ander Seite ist mein Ideal, so wie ich gerne wäre, aber nie sein kann. Wir beide, mein Ideal und ich, leben in einem ständigen Wettstreit miteinander, und es liegt wohl in der Natur der Sache, dass ich dabei nie gewinnen werde. Mein Ideal ist einfach immer und in allem besser.
Es kennt weder Migräne, den Heißhunger nach gebrannten Mandeln noch die Angst vor Spinnen, hat keine Orangenhaut an den Oberschenkeln und weiß nichts von Blasenschwäche und Hitzewallungen. Mein Ideal hat zu allem eine klare Meinung, liest mehrere Tageszeitungen, ist gebildet, treibt regelmäßig Sport, ernährt sich gesund und teilt seine Zeit sinnvoll ein. Mein Ideal überwindet jeden Schweinehund, gebraucht keine Notlügen, lästert nicht über die Nachbarn, ist konsequent in der Sache aber charmant im Umgang mit anderen…
Natürlich interessiert es sich für Literatur, kennt sich perfekt mit dem Computer aus und ist selbstverständlich in der Lage sein Fahrrad selbst zu reparieren, vertikutiert alleine seinen Rasen, näht Kissenbezüge, strickt Socken, streicht Zäune und Zimmer und kocht voll Leidenschaft ganz nebenbei die tollsten Menues.
Wenn ich mich morgens nochmal träge und verschlafen auf die andere Seite drehe, würde mein Ideal bereits munter aus dem Bett springen und die Yogamatte ausrollen.
Diesen Widerspruch gilt es nun auszuhalten – Tag für Tag, Woche für Woche ein Leben lang.
Man kann seinem Ideal nicht entfliehen, man kann nur versuchen sich mit ihm zu arrangieren, und das gelingt mir mal mehr, mal weniger gut.
An meinen guten Tagen, wenn ich fit und energiegeladen bin, habe ich den brennenden Wunsch, diesem Ideal wenigstens ein bißchen näher zu kommen. Dann reizt es mich mindestens hin und wieder auf Augenhöhe mit ihm zu sein, und ich bin entschlossen und motiviert den Kampf aufzunehmen. Dann atme ich mit jeder Pore Disziplin, zieh mein Selbstbewußtsein an, schiebe die Trägheit beiseite und lege los. Und bin ich erst einmal in Fahrt, geht es oft leichter als gedacht. Da trennt mich dann manchmal nur noch ein ganz kleiner Schritt von meinem Ideal.
Solche Tage sind schön. Da fühle ich mich großartig und bestärkt, denn jetzt habe ich mein Leben im Griff und nicht umgekehrt.
Aber es gibt eben auch die anderen Tage, und die sind leider deutlich in der Überzahl. Da hechle ich meinem Ideal hinterher wie ein greiser Jagdhund einem jungen Reh. Mein Selbstbewußtsein schmilzt dahin, und eine ungeheure Antriebslosigkeit macht sich breit. Die Unentschlossenheit lauert hinter jeder Ecke, und der Zweifel macht sich zu meinem ständigen Begleiter, während eine allgemeine Angst den Bereitschaftsdienst übernimmt. Da schaffe ich es nicht einen einzigen Zentimeter aus der „Eigentlich–Zone“ herauszukommen, hadere mit mir und der Welt und bin doch nicht in der Lage etwas zu ändern. Diese Tage sind nicht schön, da werde ich gelebt und bin ziemlich unfähig etwas dagegen zu tun. Und mein Ideal? Das lacht sich unerreichbar fern und schadenfroh ins Fäustchen.
Die Kunst des Alltags, das habe ich mit der Weisheit meines Alters mittlerweile herausgefunden, besteht wohl darin einen gesunden Mittelweg zwischen beiden Polen zu finden. Natürlich kann ich nicht immer ideal sein, aber ich kann ja mein Ideal als Orientierung nehmen, an dem ich mich ausrichte.
Und noch etwas habe ich herausgefunden, neulich an einem der weniger guten Tage. Da bekam ich eine Whatsapp-Nachricht von einer Freundin, in der stand:
„Ich mag dich so wie Du bist! Schön, dass es dich gibt!“
Das ist nämlich das Geheimnis überhaupt: Wenn wir manchmal, (gerne auch öfter) gesagt bekommen, dass wir gut sind, so wie wir sind, dann müssen wir nicht ideal sein um glücklich zu sein!