Das Abdecktuch

November 17, 2015 0 Von Stahlhuth

 

Kein Mensch weiß heute noch, was ein Abdecktuch ist. Das halte ich persönlich für eine ausgesprochene Bildungslücke. Allerdings braucht auch kaum noch jemand ein Abdecktuch, was ich natürlich extrem schade finde, und was wiederum erklärt, weshalb heute keiner mehr etwas mit diesem Begriff anzufangen weiß.
Abdecktücher gehörten früher in jeden ordentlichen Haushalt und zu jeder gründlich geplanten Reise, wie Brotdosen, Tauchsieder und aufladbare Taschenlampen.
Kein vernünftig gepackter Koffer kam ohne Abdecktuch aus, denn hatte man seine ganzen Habseligkeiten verstaut, wurde die jeweilige Kofferhäfte sorgsam und ordentlich mit besagtem Tuch abgedeckt. Dabei handelte es sich meistens um ein altes aber natürlich gut erhaltenes Handtuch. Später dann, weil es ja hübscher aussah und auch irgendwie einheitlicher war, gab es extra der Koffergröße entsprechend zugeschnittene und fein säuberlich eingefasste, bunte Baumwolltücher mit fröhlichem Muster. Damit kam schon beim Kofferpacken die richtige Urlaubsstimmung auf. Diese Abdecktücher hatten ja auch den unbestrittenen Vorteil, dass man den geöffneten Koffer im Hotel oder wo auch immer liegen lassen konnte ohne ihn vollständig auszupacken. Wer auch ins Zimmer kam, hatte somit nicht gleich den unmittelbar freien Blick auf den mitunter bunt zusammengewürfelten Kofferinhalt, denn alles wurde zunächst einmal gnädig und geschmackvoll „abgedeckt“.
Ich muss allerdings zugeben, dass mein lieber Mann auch nicht auf Anhieb, und schon gar nicht aus freien Stücken, den Zugang zu diesen überaus praktischen Reisebegleitern fand und es mich doch einige Jahre intensiver Überzeugungsarbeit gekostet hat, ihn von ihrer unbedingten Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit zu überzeugen.
Gerade wähnte ich mich am Ziel, und er war soweit, einen fertig gepackten Koffer nur zu schließen, wenn dieser vorher noch mit einem Abdecktuch versehen worden war, da entschlossen wir uns, neue Koffer zu kaufen. Was ich nicht ahnte und wußte, war, daß mit diesem Entschluß das Abdecktuch zum Auslaufmodell wurde und eine jahrelange Aera damit zu Ende ging. Im Innenleben der neuen Koffer ist so etwas nämlich schlichtweg nicht mehr vorgesehen. Der Inhalt der beiden Kofferhälften wird hier dezent von einer zarten nahezu durchsichtigen Netzmembran gehalten bzw. geteilt, die man mit einem Reißverschluß problemlos öffnen und schließen kann. Keine fröhlich bunten Schmetterlinge mehr auf weißem Baumwollstoff, der immer irgendwo eingeklemmt ist und an mindestens zwei Seiten aus dem Koffer schaut. Nun ist alles perfekt eingepasst, praktisch, funktionell, aber auch irgendwie ein bisschen steril. Also wenn man mich fragt, aber das tut ja in solchen Situationen nie einer, Kofferpacken war füher irgendwie „persönlicher“.
Etwas wehmütig stand ich nun so vor meinem Stapel mit wunderschönen Abdecktüchern und fragte mich, was soll jetzt bloß aus ihnen werden?
Da musste ich an meine Oma denken, die immer sagte: „Was sich im Alltag einmal bewährt hat, das hat auch Bestand“. Ich packte die Tücher also zunächst einmal in meinen Wäscheschrank, voll Zuversicht, dass ihre Zeit bestimmt noch einmal kommen würde.
Und so war es dann auch.
Wie immer in einer größeren Familie haben wir viel von hier nach da zu transportieren, und so ist der Kofferraum unseres Autos oft bis auf den letzten Winkel ausgefüllt. Damit dann nichts schabt, reibt oder klappert, stopft der routinierte Packmeister, was mein lieber Mann ist, gerne alle möglichen Lappen, Tücher, Zeitungen, Kissen und was ihm sonst noch so in die Finger kommt, in die Zwischenräume. Das dient dann zwar der Funktion, schaut aber nicht unbedingt ordentlich und schön aus. Schon wenn man von außen einen Blick durch die Scheibe wirft, können einem wüste Ahnungen kommen! Da möchte man sich nicht unbedingt als Halter dieses Autos „outen“ und schon gar nicht den Kofferraum öffenen müssen.
Manchmal könnte man meinen, wir wären auf der Flucht oder hätten gerade einen Gemischtwarenladen überfallen. Es könnte auch sein, dass wir ein privates Kleinumzugs-unternehmen betreiben oder einen Weinvertieb, gar auf dem Weg zu einem Flohmarkt sind oder der örtlichen Müllentsorgung zuarbeiten.
Was da wie und wo neben- oder übereinander in unserem Auto liegt, das alles ist doch sehr privat, genau wie der Inhalt eines Koffers und hat die Öffentlichkeit eigentlich nicht zu interessieren. Und hier endlich kommen meine Abdecktücher wieder ins Spiel!
In verschiedenen Größen, je nach Bedarf zugeschnitten, liegen sie ja schon bereit und warten doch nur noch auf ihren Einsatz. Ich frage mich, warum ich da nicht schon viel früher drauf gekommen bin. Reisen, Umzüge und Transporte aller Art sind also in Zukunft kein Problem mehr. Was auch immer ab jetzt in unserem Auto befördert wird, ist vor neugierigen Blicken geschützt, mit farbfröhlichen Abdecktüchern kratz- und stoßfest verhüllt und zudem hübsch verpackt.
Auch davon musste ich meinen Mann ein bisschen überzeugen, aber es ging bedeutend schneller als beim ersten Mal, und inzwischen schließt er die Kofferraumklappe nie ohne vorher sorgfältig und liebevoll ein Abdecktuch über das Gepäck gelegt zu haben.

Ich war eben immer schon ein Freund nachhaltiger Lösungen, und meine Oma hatte mal wieder Recht!