Ansichten und Einsichten von Mensch und Hund (2)

November 17, 2020 1 Von Stahlhuth

 

(2)

Wir: Theorie und Praxis

 

Endlich ist Sam bei uns eingezogen und hat augenblicklich unser Leben gehörig auf den Kopf gestellt. Wir merken, dass dieser „Kopfstand“ zwar manchmal anstrengend ist, aber es fördert auch die Durchblutung und regt längst stillgelegte Bereiche in uns frei. Wir denken, fühlen, planen, schlafen, ja, wir leben jetzt irgendwie anders, und oftmals wundern wir uns über uns selbst.

Teppichfransen sind zerzaust, überall im Haus findet man Hundespielzeug, ein Eimer mit Seifenlauge und ein Wischmopp stehen allzeit bereit, um kleine Missgeschicke zu beseitigen; im Windfang findet man  jetzt verdreckte Gummistiefel, eine Hundeleine baumelt an der Garderobe, und natürlich haben wir nun in jeder Jacken- oder Manteltasche einen Kotbeutel und verschiedene Leckerlies.

Eigentlich gehen wir theoretisch bestens vorbereitet in dieses Abenteuer, aber auch wir müssen feststellen, dass selbst auf dem Gebiet der Welpenkunde Theorie und Praxis Hundejahre auseinander liegen können, und der Schatz an neuen Erfahrungen unerschöpflich scheint.

Sam bestimmt jetzt unseren Tages- und Nachtrhythmus und eröffnet uns dabei ganz neue Horizonte. War ich jemals morgens um 3 Uhr bei absoluter Dunkelheit und Regen in meinem Garten? Nein, niemals! Und deshalb konnte ich bisher auch nie ein Wort mit dem Zeitungsboten wechseln, der um diese Zeit auch unterwegs ist. Schade eigentlich, denn er ist ein interessanter Typ.

Mit einer Taschenlampe in der Hand in dunkler Nacht über den Rasen zu gehen, um nach eventuellen Exkrementen zu suchen, das hat schon was von Geocaching für Fortgeschrittene. Und ich muss sagen, ich werde immer besser darin.

Zwei Häuser weiter brennt jede Nacht das Licht in einem anderen Zimmer, und gegenüber flimmert pausenlos der Fernseher, obwohl keiner davorsitzt. Ganz neu ist mir auch, wie viele Bewegungsmelder an den verschiedenen Einfahrten installiert sind. Es gleicht fast einer Straßen-Lichtorgel, wenn man da entlang geht. Sam ist fasziniert und irritiert zugleich, was nicht unbedingt für ein zügiges Weiterkommen sorgt.

Ich wusste auch nicht, in welch affenartiger Geschwindigkeit man einen Jogginganzug nebst Gummistiefel über den Schlafanzug ziehen, zeitgleich Leckerlies und Kot-Tüte in die Tasche stecken, Haustür aufschließen und den Hund anleinen kann. Denn soweit die Theorie: Sobald sich der Welpe meldet, bringen sie ihn vorsichtig nach draußen, wo er sich „lösen“ kann. Praxis: Man schläft tief und fest, Welpe kratzt an der Matratze, man springt augenblicklich aus dem Bett, klemmt den Hund unter den Arm, hüpft in die Klamotten und hofft, dass die „Losung“ nicht ins Treppenhaus rieselt. Hin und wieder ist man schnell genug und gewinnt das Rennen gegen die Welpenblase.

Draußen auf der Straße hat Sam so eine ganz eigene Sicht auf die Dinge und eine sehr persönliche Choreographie seines Gassigangs. Er läuft einige Meter forsch an der Leine – man frohlockt – dann bleibt er unmittelbar stehen, setzt sich mitten auf die Straße, und wenn ihm danach ist, streckt er sich auch für einige Zeit dort aus. Am anderen Ende der Leine versucht man ruhig zu bleiben und lenkt schon mal die vorbeikommenden Radfahrer und Autos um. Ganz plötzlich, weil vielleicht ein Blatt über den Boden tanzt oder ein Vogel piepst, springt er dann auf und jagt davon. Wohl dem, der die Leine fest am Handgelenk hat.

Begrünte Hofeinfahrten und struppige Rabatten scheinen sehr verdauungsfördernd auf ihn zu wirken. Da ist man gut beraten, den kleinen Plastikbeutel parat zu halten, um die wertvolle Losung einzusammeln, bevor der Hund sie frisst. Theorie sagt: man freut sich ausgelassen und gibt dem Welpen zur Belohnung ein Leckerlie. In der Praxis muss man aber rasend schnell mit dem Leckerlie kommen und fast zeitgleich den Hund wegzerren, denn sonst belohnt sich Sam mit den eigenen Erzeugnissen, ehe man ihn noch dafür loben konnte.

Im Haus haben wir, wie empfohlen, in jeder Etage einen Liegeplatz für den Kleinen eingerichtet. Schön mit Decke, Kuscheltier und hundepädagogisch wertvollem Spielzeug. Allerdings bevorzugt Sam oft andere Arten und Orte der Entspannung. Gerne leckt er nackte Füße, schlabbert über alle glatten Böden, ist auch dem Hals einer leeren Weinflasche nicht abgeneigt und schätzt leider auch hin und wieder die Ruhe und Reinheit eines Küchenbodens um sich zu erleichtern. Theorie: moderate Strafe muss sein. Nach passiertem Missgeschick im Haus setzen wir ihn also vor die Haustür. Natürlich ist er angeleint, damit er nicht im Garten herumtoben kann.  Praxis: er schäkert mit den Nachbarn, die drüben am Fenster stehen und ist eigentlich wenig begeistert, wenn wir seine Strafzeit beenden und ihn wieder ins Haus holen. Dort gibt er mitunter „Winde“ von sich, dass die Fensterscheiben beschlagen und man sich fast sehnsüchtig eine Atemschutzmaske wünscht.

Sam ist aber nicht nur Hund oder Welpe. Sam ist auch unser aktueller privater Fernsehsender. Täglich bringt er neue kleine Sketche, hat pfiffige Tricks auf Lager und verbreitet ein fröhliches Karma. Er kann einem verschmust auf dem Arm liegen, sich den Bauch kraulen lassen, er kann quietschen vor Freude und dankbar den Kopf schräg halten, wenn man ihn lobt. Er kann aber auch „die wilde Luzie“ rauslassen und wie ein Derwisch durchs Haus fegen. Dann zerwühlt er, was er vor seine kleine Schnauze bekommt und schnappt auch mal nach Hosen, Socken oder einem Finger. Er dreht sich um seine eigene Achse, stranguliert sich fast mit der Leine oder übt Kopfstand und Purzelbaum in seinem Körbchen. Sein Repertoire ist unerschöpflich.

Er lernt viel, wenn er will, und er vergisst augenblicklich, was er gelernt hat, wenn ihn etwas anderes beschäftigt.

Wie heißt es so schön: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne!

In diesem Fall stimmen Theorie und Praxis sogar mal überein. Nach zwei Wochen mit Sam sind wir absolut verzaubert!

 

 

Sam: No risk, no fun

 

 

Ich dachte ja schon die älteren Leutchen, die so interessiert an mir waren, hätten mich vergessen, oder der Schlag hätte sie getroffen. Kann ja in diesem Alter leicht mal passieren. Aber dann sind sie eines Tages doch noch gekommen und haben mich abgeholt. Die letzte Zeit war ja auch nicht mehr so prall, ganz allein ohne die Geschwister. Da sollte man dann auch nicht zu wählerisch sein. Besser Einzelwelpe bei älteren Leuten, als einer unter vielen in einer durchgeknallten Hipster-WG.

Und so ging es dann auch ganz gut los. In einer stylischen Transportbox mit nylonvergitterten Fenstern wurde ich zu meinem neuen Zuhause gefahren. Kuscheltier, Leckerlies und Spielball, alles dabei. Da darf man nicht meckern. Trotzdem habe ich mich erstmal schlafend gestellt. Ich dachte, da kann einem am wenigsten passieren, und man kann dennoch hin und wieder einen Blick riskieren und was erschnüffeln.

Inzwischen bin ich jetzt gut zwei Wochen in meinem neuen Zuhause. Was soll ich sagen? Die Hütte ist schon ganz cool, allerdings ist alles irgendwie riesengroß, und ich finde mich allein noch nicht wirklich zurecht. Jeden Tag entdecke ich etwas Neues, das ich erschnüffeln oder ausprobieren muss. Das fordert einen ganz schön!

Herrchen und Frauchen bemühen sich auch wirklich, aber die ticken eben einfach anders. Die denken, dass ich alles behalte, was sie mir zeigen, oder dass ich schon genau weiß, was ich darf oder nicht. Es ist echt anstrengend, und ich träume wirklich manchmal von einem Welpen-Wellness-Wochenende, wo ich den ganzen Tag und die ganze Nacht nur tun und lassen kann, was ich will.

Was ich jetzt alles lernen soll? Zum Beispiel: nicht ins Wohnzimmer kacken, obwohl der Teppich dort doch so schön weich ist. Wenn ich dann dafür in die Küche gehe, ist das auch nicht recht. Dabei habe ich noch Rücksicht genommen, mir alles verkniffen und gewartet, bis alle draußen waren. Echt blöd!

Zur Strafe setzen sie mich dann vor die Haustür. Das ist aber gar nicht mal so übel, denn gegenüber wohnen nette Leute, die stehen dann am Fenster, und wir haben Spaß zusammen.

Nachts darf ich mit ins Schlafzimmer auf ein schönes Kissen zusammen mit meinem Kuscheltier. Bis ich das allerdings durchgeboxt habe, wau wau, das hat mich zwei Nächte harter Arbeit gekostet. Die wollten mich doch glatt in der Transportbox schlafen lassen. Okay, sie haben oben aufgemacht, aber mal ehrlich, da ist man ja richtig eingeengt. Dass die das nicht kapiert haben. Die schlafen doch auch nicht im Schrank, selbst wenn die Tür auf ist. Ich habe also ordentlich Randale gemacht, oben rausgeguckt und ewig keine Ruhe gegeben. Herrchen war schon etwas angepisst denn – das zumindest habe ich inzwischen kapiert – wenn man seinen Schlaf stört, gefällt ihm das gar nicht. Die Aktion hat aber trotzdem noch nicht gereicht. In der nächsten Nacht habe ich das seitliche Fenster aufgemacht. War echt harte Arbeit, den Reißverschluss von innen aufzubekommen, aber es hat geklappt, und als ich dann noch die ganze Box umgeschmissen habe, dann endlich haben sie es kapiert. Nun ja, es sind eben ältere Leutchen, die brauchen halt ein bisschen länger, bis sie was schnallen.

Jetzt ist vieles einfacher. Wenn ich dann nachts mal muss, gehe ich zu Frauchen ans Bett und kratze an der Matratze. Sie springt zwar sofort aus den Federn, klemmt mich unter den Arm (weil ich ja noch nicht über die Treppe darf), und los geht’s. Aber bis sie in ihren Klamotten ist, Mütze, Schal und Stiefel anhat, dann vielleicht noch den Hausschlüssel sucht, da kann es schon mal eng werden.

Wir tapern dann zusammen durch die Straßen. Am Anfang war sie mit mir nur im Garten – puh, war das dunkel. Wahrscheinlich hat sie da Angst gehabt, denn nun flanieren wir immer hübsch draußen an den anderen Häusern vorbei. Das gefällt mir allein vom Schnüffelaspekt auch viel besser, und außerdem ist es natürlich total spannend. Aber ich bin vorsichtig und halte lieber alle paar Meter mal an, dreh mich um und überlege gründlich, ob es sich lohnt weiter zu gehen oder ob die Duftnote von vorher nicht vielleicht besser war.

Auf jeder Runde gibt es so viel Neues zu entdecken, zu erschnüffeln und auszuprobieren. Zigarettenkippen, Plastikfolien und Kaugummi finde ich z. B. toll, aber Frauchen wird dann immer ganz panisch, wenn ich davon probiere.

Grundsätzlich gibt es für jedes „Geschäft“ außerhalb des Hauses ein Freudengeheul und ein Leckerlie. Also ehrlich, da machen die auch ein ziemliches Brimborium drum. Kaum bin ich fertig, werde ich weggezerrt, darf mir mein Geschäft nicht einmal mehr ansehen, geschweige denn davon naschen. Ich muss dann „Sitz“ machen, werde tüchtig gelobt, bekomme mein Leckerlie, und mein Geschäft wird in eine kleine Tüte verpackt. Die bringen wir dann gemeinsam zu der großen Tonne im Garten, die so unheimlich toll riecht, dass ich eigentlich gar nicht mehr davon weg will.

Ich versuche es ja, aber manchmal versteht man diese älteren Leute auch nicht. Wenn Herrchen seine Lederhose und dicke Handschuhe an hat und ich mit ihm spiele, dann darf ich ein bisschen zwicken und auch kratzen. Wenn ich aber seine nackten Füße lecke, was er übrigens total schön findet, und ich mich so ein bisschen in Ekstase schlabbere und zuschnappe, dann brummt er mich an und ich muss ins Körbchen oder aus dem Zimmer. Frauchen macht solche Spiele nicht mit mir. Die steht mehr aufs Streicheln und Kraulen, was ja auch sehr schön ist. Nur wenn ich ihrer Hand zu nahe komme, ist Schluss. Wahrscheinlich hat sie Angst, dass ich ihren Nagellack abknabbere, aber ich bin ja nicht blöd. Da hole ich mir doch lieber ihren Holzpantoffel, da hat man wenigstens was Vernünftiges im Maul. Komischerweise kommt auch das so gar nicht gut an. Warum eigentlich? Im Garten darf ich doch auch mit einem Stück Holz spielen.

Na ja, man muss eben immer wieder austesten, was geht und was nicht.                               

„No risk, no fun „sag ich da nur.  Mit etwas Hundegeduld und Ausdauer werde ich mir die Herrschaften schon hinbiegen und ihnen beibringen , was gut für mich ist und mir Spaß macht. Wäre doch gelacht!  Wau wau.