Zurückgekehrt
Als ich heute Vormittag das Hotel verließ, um hinunter zum See zu gehen, da sah ich ihn plötzlich. Er stand auf dem kleinen Balkon des Eckzimmerchens, das mit der besten Aussicht gleich oberhalb der Terrasse. Müde und ein wenig gebeugt lehnte er am Geländer, neben sich den klapprigen Stuhl, der auf seltsame Weise mit ihm gealtert schien.
Gedankenverloren, fast ein bisschen teilnahmslos schaute er über den See.
Ich hätte gerne gewusst, was er gedacht hat.
Wir kennen ihn von früher, an die zwanzig Jahre ist das jetzt her.
Damals kam er regelmäßig mit seiner ganzen Familie, Ehefrau, Kinder, Schwiegerkinder und einer ständig wachsenden Zahl von Enkeln. Er war der Patriarch, autoritär, stolz, selbstgefällig und auch ein bisschen arrogant.
In dieser Familie war man Zahnarzt, und wir hatten den Eindruck, wer diese Voraussetzung nicht erfüllte, musste umschulen oder woanders einheiraten.
Alle waren organisiert, die Kinder machten Sport, lasen gute Bücher und nahmen voll Begeisterung an allen angebotenen Ausflügen und Bergwanderungen teil. Die Alten spielten Golf und diskutierten danach bei einem gepflegten Gläschen Wein die neuesten Abrechnungsmodelle und die Anschaffung eines Geländewagens zur Jagd.
Wie haben wir diese Familie bestaunt, wie sie abends auf der Terrasse an einer langen Tafel saßen, in den besten Jahren bis zu 16 Personen, wie sie schwatzten, aßen, tranken und lachten. Und immer führte er den Vorsitz.
Dann irgendwann waren sie nicht mehr da. Womöglich passten die Ferientermine nicht mehr mit den unseren überein, oder vielleicht hatte man jetzt andere Urlaubsziele.
Vorgestern nun beim Abendessen war er plötzlich wieder da. Fast hätte ich ihn nicht erkannt, so sehr hatte er sich verändert.
Alt, zerbrechlich und ganz allein saß er an seinem Tisch und schaute über die Terrasse. Vorsichtig tastete sein Blick alles ab. Ob es da noch Vertrautes gab oder Überlebende aus den früheren Jahren, solche, die ihn noch von damals kannten? Andere Familien sind jetzt da mit Kindern und Enkeln – neue Stammgäste. Es gibt andere Tische auf der Terrasse, neue Stühle, das Essen ist raffinierter geworden und das Geschirr moderner, die Sonnenschirme wurden ausgewechselt, ebenso wie die Bedienungen.
Er wirkte ein bisschen verloren und man hatte den Eindruck, dass weder er, noch das, was er suchte, zu seiner Erinnerung passen wollte.
‘Alt werden ist wirklich nicht leicht‘ dachte ich, ‚und allein zurückzu- kehren an diesen Ort ist mutig!‘
In der Abendsonne glitten die letzten Boote über den See, der Berg schimmerte majestätisch, und vom gegenüberliegenden Ufer klang leise Musik herüber. Abendstimmung am See. Eigentlich hatte sich nichts verändert in den letzten zwanzig Jahren und für ihn vielleicht doch so unendlich viel.