Mein grüner Therapeut
Wer heutzutage keinen Therapeuten hat, ist eigentlich nicht ganz normal. Es hat sich ja so eingebürgert, dass man inzwischen sämtliche Befindlichkeitsstörungen von Fachleuten analysieren und entsprechend behandeln lässt und dass jeder Außenstehende ungefragt am Fortschritt oder Fehlschlag dieser Therapie teilhaben darf. Ich rede hier nicht von wirklich ernsthaften psychischen Problemen. Das ist etwas ganz anders und gehört überhaupt nicht hierher. Ich rede von den ganz normalen Stimmungsschwankungen, denen wir alle im Leben mal mehr, mal weniger ausgesetzt sind. Frauen im fortgeschrittenen Alter, also jenseits des Fruchtbarkeitsäquators haben damit ja ein bißchen mehr zu tun und „leiden“ oft auf sehr unterschiedliche Weise. Die Bandbreite der dafür angebotenen Hilfmittel ist groß und reicht von Selbsterfahrungskursen über Workshops aller Art bis hin zu Einzeltherapien. In meinem Bekanntenkreis gibt es da einige Fälle, die auf diese Weise so mancher Praxis zu viel Geld und vollen Wartezimmern verholfen haben, sich selbst aber augenscheinlich zu recht wenig Besserung. Das ist natürlich bedauerlich, wenngleich ich nicht beurteilen kann, woran es im Einzelnen liegt oder lag. Ich kann in diesem Fall nur für mich oder von mir sprechen.
Natürlich kenne auch ich diese Tage, an denen man sich selbst und die ganze Welt nicht leiden mag. Tage, die man am liebsten im Bett verbringen würde, weil man sich ausmalt, welches Gesicht einem gleich im Badezimmerspiegel entgegenschaut. Tage, die schon frühmorgens älter erscheinen, als man selbst und solche, an denen eine geschlossene Wolkendecke so tief über dem Gemüt hängt, dass man sich darunter nur noch klein, schwach und absolut mutlos fühlt. An diesen Tagen brauche auch ich – nach heutigen Maßstäben zumindest – unbedingt einen Therapeuten.
Nun hat ja mittlerweile jeder seinen ganz persönlichen Spezialisten auf diesem Gebiet, der all die größeren und kleineren Problemchen kennt und an dessen Kompetenz man bedingungslos glaubt. Auch in dieser Hinsicht bin ich absolut keine Ausnahme.
Allerdings ist mein Therapeut ein bisschen anders als all die anderen, und eigentlich ist er komplett anders.
In den Wintermonaten arbeitet er in der Regel kaum oder gar nicht, und so sehne ich ab Ende März ungeduldig unsere ersten gemeinsamen Sitzungen herbei. Sobald es das Wetter zuläßt, bin ich da. Ich brauche keinen Termin, muß keine Arzthelferin von der Dringlichkeit meines Falles überzeugen, ich selbst bestimme die Länge und Intensität der einzelnen Sitzungen. Mein Therapeut ist geduldig. Er überläßt mir im wesentlichen, was wir machen und wie wir vorgehen, nur grobe Fehler, die entschuldigt er nicht. Schon daran kann man erkennen, dass es sich um eine ganz besondere Therapie handeln muss.
Mein Therapeut ist mein Garten, und sein Behandlungsangebot ist wahrlich breit gefächert.
Gerade nach der langen Winterpause tut es gut, nicht nur den Rasen, sondern auch so manche festgefahrene Ansicht und Meinung zu vertikutieren. Das schafft Platz für neue Überlegungen und gibt Raum für frische Inspirationen.
Und während ich das alte Laub und die verdorrten Zweige auf den Komposst werfe, denke ich, daß das auch ein guter Platz für all den angesammelten Ärger und Groll wäre, den ich immer noch mit mir herumtrage. Warum also nicht auch Ärger und Groll kompostieren? Wer weiß, ob sich daraus nicht doch nochmal etwas Gutes entwickeln kann?
Ich zupfe das Unkraut aus den Beeten und bin mir dabei bewußt, daß es genau wie meine vorschnellen Meinungen und Vorurteile immer und immer wieder neu in Schach gehalten werden muss. Im Beet nebenan grabe ich ein paar Sorgen unter, ich brauche sie nicht mehr, und an den Rosen schneide ich einige wilde Triebe ab, ebenso wie an meinen Gedanken.
Bei ganz besonders fiesen Schädlingen, die mir das Leben extrem schwer machen, da schrecke ich auch nicht davor zurück hin und wieder Gift zu spritzen. Es bleibt allerdings die Ausnahme. Denn eigentlich lerne ich bei meinen „Sitzungen“ immer wieder Geduld zu haben. Nichts reift wirklich auf die Schnelle. Manche Ideen keimen langsam, ehe sie konkrete Formen annehmen, und was man nicht kontinuierlich hegt und pflegt, kann einem schon mal kaputt gehen. Das gilt für Setzlinge im Garten ebenso wie für Freundschaften und Beziehungen. Auch gibt es immer wieder Pläne, die man erst ein paar Mal umsetzen muss, ehe sie sich am richtigen Platz dann endlich erfüllen. Erde muss aufgelockert werden, damit Neues wachsen kann, warum nicht auch die eigenen Zwänge lockern und schauen, was passiert?
Es gibt so vieles zu entdecken, so viele kleine Wunder, versteckte Schönheiten, herrliche Farben und Düfte, soviel Leben, Geräusche und Überraschungen, daß ich am Ende mit der ganzen Pracht meines Gartens meine Seele düngen kann.
Mein grüner Therapeut zeigt mir all diese Dinge, während ich im Schweiße meines Angesichtes der scheinbar trivialen und stumpfsinnigen Gartenarbeit nachgehe. Das ist sein Geheimnis und sein Erfolgsrezept zugleich, und das alles kann ich haben, wann immer ich es möchte oder brauche, denn mein grüner Therapeut ist allzeit bereit. Ich muss nur vor meine Haustür treten…
<3
Bitte mach weiter, es tut gut Deine Artikel zu lesen – ich freue mich auf die nächsten Tastenblicke……. dieser Therapeut würde ganz vielen Menschen helfen, wenn sie es denn zulassen…. Klasse!