In einem Buch „wohnen“

März 22, 2015 2 Von Stahlhuth

 

Manchmal möchte ich in einem Buch wohnen. Das klingt ein bißchen komisch, das gebe ich gerne zu, und das gilt ja auch nicht für Telefonbücher, Lexika oder Kochbücher und natürlich auch nur für einen verhältnismäßig kleinen Teil von mir, nämlich für meinen Geist. Aber es gibt wirklich Bücher, in denen würde ich gerne wohnen, wenigstens eine Zeit lang.
Man könnte auch sagen: Mein Kopf sucht ein Hotel.
Nun wissen wir alle, daß es die verschiedensten Hotels gibt, angefangen von der einfachen Privatpension bis zum Luxushotel mit fünf Sternen ist eine große Bandbreite. Ähnlich ist es bei den Büchern. Man kann nicht sagen ich nehme nur diese oder jene. Es kommt immer auf die persönliche Situation, auf die eigene Erwartung und auf den individuellen Geschmack an.
Ich z.B. mag Bücher, in denen jemand Gedanken und Ansichten formuliert, wie ich sie selbst empfinde, aber nie so ausdrücken könnte. Wo Gefühle und Situationen beschrieben werden, denen ich nachspüren kann oder solche, in denen es um Fragen und Probleme geht, die auch mich beschäftigen. Wenn ich dann beim Lesen merke, da hat einer nur mit der Wahl der richtigen Worte und Sätze so etwas wie ein literarisches Stück Musik geschrieben, dann horcht mein Geist auf. Manche „Wortmelodien“ sind mitreißend, andere wehmütig, wieder andere stimmen mich fröhlich und manchmal sind welche dabei, die wecken eine Art Heimatgefühl in mir. Da ist etwas Vertrautes, ich fühle mich verstanden oder an etwas längst Vergangenes erinnert. Oft ist es nur eine winzige Formulierung, und plötzlich ist sie wieder da, die Angst vor dem Nachbarshund, an dem ich auf meinem Schulweg immer vorbei mußte, der typische Geruch nach Bohnerwachs bei meiner Großmutter im Treppenhaus oder das wohlige Gefühl, dass alles gut ist, wenn meine Eltern beim Sonntagsspaziergang Hand in Hand vor mir hergingen. Solche Bücher können mich trösten, mich belehren, mir Mut machen, mir den Kopf zurechtsetzen, mich fröhlich stimmen, mir eine andere Sicht auf die Dinge zeigen. Sie können auch mal meine Meinnug ändern, aber nie würden sie mich bloß stellen, nie verletzen oder mir weh tun. Bücher können, wenn es die richtigen sind, eben manchmal ein Stück zu Hause sein, zumindest aber ein Ort der Geborgenheit.
Gerade eben z.B. habe ich wieder ein wunderschönes Buch zu Ende gelesen, und wie immer bei mir und einem solchen Buch geschieht das in einer ganz bestimmten Weise.
Ich beginne vorsichtig und behutsam. Noch weiß ich ja nicht wirklich, was mich erwartet, und so taste ich mich sachte Seite für Seite und Blatt für Blatt voran. Es ist wirklich, wie wenn man ein neues Hotel betritt und allmählich Raum für Raum erkundet.
Gefällt mir die Atmosphäre nicht, mache ich nicht weiter. Früher dachte ich immer, ich müßte jedes angefangene Buch unbedingt zu Ende lesen, genau wie ich gelernt hatte immer meinen Teller abzuessen. Heute mache ich das nicht mehr. Wenn ich merke, daß da etwas geschrieben steht, das mich nicht anspricht, mir nichts sagt oder mich langweilt, dann leg ich das Buch zur Seite.
Es muss deshalb nicht schlecht sein, aber es muss schon zusammen passen – das Buch und ich, also der Inhalt und der Leser.
Wenn es aber passt und mir Thema oder Handlung gefallen, dann finde ich mich relativ schnell zurecht. Dann freue ich mich auf jede Auszeit, die ich mir nehmen kann, um weiter zu lesen und tiefer in die Materie einzutauchen. Mit manchen Charakteren kann ich mich identfizieren, mit anderen weniger, Probleme kommen mir bekannt vor, ihre Lösungen überraschen mich manchmal, und oft finde ich zwischen all den Krisen, Katastrophen, und Konflikten auch noch ein kleines Stückchen heile Welt. So ist es dann auch nicht weiter verwunderlich, dass ich etwa ab der Mitte eines (guten) Buches das Lesetempo deutlich drossele. Zu wohl fühle ich mich mittlerweile zwischen diesen beiden Buchdeckeln, als daß ich sie schon verlassen möchte, und so zögere ich das Ende immer noch noch ein bißchen hinaus.
Die Art, wie etwas beschrieben ist, kann so wunderbar sein, eine Handlung so fesselnd oder eine Beschreibung derart klar, als ob man direkt dabei wäre.
Ja, mein Geist wohnt dann ein bißchen in diesen Seiten, und manchmal habe ich das Gefühl, man findet in einem Buch leichter und schneller den Platz, den man im Leben oft so mühsam sucht. Kaum verwunderlich, dass man dort bleiben möchte.
Und so ist es, als ob man in dem schönen geistigen Hotel, in dem man sich gerade so gut eingelebt hat, gerne noch ein paar Tage verlängern würde.

Aber wie im richtigen Leben gilt eben auch hier: nur Veränderungen bringen uns weiter.
Im besten Falle liegt die Nachfolgelektüre ja schon bereit, und mein Kopf darf sich auf sein neues „Hotel“ freuen. Was es wohl dieses Mal sein wird?
Das gemütliche Landhaus, wo man die Seele baumeln lassen kann oder eher etwas aus dem gehobenen Segment für den anspruchsvollen Gast? Jede Kategorie hat ihren Reiz, und aus jeder kann man etwas mitnehmen – gelungene Formulierungen, fast vergessene Worte, einen ungewöhnlichen Gedanken, einen Satz, der mein Leben oder meinen Tag verändert, eine provokante Frage, eine Anregung oder einfach nur ein angenehmens Gefühl.