Geheimnisvolle Hulda
Gerade habe ich mein morgendliches Sportprogramm absolviert. Schwitzend und leicht außer Puste stehe ich am Fenster und schaue hinaus in den Garten. Drüben auf der anderen Straßenseite liegt das Haus von Hulda. Hulda, die nicht wirklich Hulda heißt, lebt dort schon seit gefühlten Ewigkeiten. Aber ob das wirklich ihr Haus ist, wer kann das schon sagen? Im Grunde weiß ich nämlich so gut wie gar nichts von Hulda, und was ich weiß , beruht auf meinen gelegentlichen Beobachtungen, morgens nach dem Sport. Im Winter ist es etwas einfacher, da stört das Laub der Bäume nicht, und man hat einen freien Blick, aber im Winter gibt Hulda in der Regel noch weniger von sich preis als sonst.
Huldas Haus ist ein totes, lebloses Haus. Nie brennt dort ein Licht, Rolläden sind immer hochgezogen, nie bewegt sich eine Gardine, nie ist ein Fenster geöffnet, es gibt keine Blumen im Vorgarten, in der Zeitungsröhre habe ich noch nie eine Zeitung gesehen, und Handwerker oder gar Besuch konnte ich bisher auch nicht ausmachen.
Nur Hulda selbst tritt hin und wieder mal in Erscheinung und weckt zunehmend mein Interesse..
Wer ist diese Frau, die ihr Aussehen im Laufe der Jahre kaum verändert hat? Wie alt mag sie sein, was für ein Leben führt sie und mit wem? Wer ist der jüngere Mann, der hin und wieder mal im Garten auftaucht? Alles Fragen auf die ich dringend eine Antwort suche.
Hulda trägt eine kastanienbraune Perücke, die auf ihrem kleinen Kopf wie eine riesige überdimensionale Pelzmütze erscheint, und immer und zu jeder Zeit hat sie eine immens große Sonnenbrille auf der Nase. Von ihrem Gesicht sieht man praktisch nichts, und völlig unabhängig von der Jahreszeit habe ich sie noch nie anders als in einer roten Jacke und einer dunklen Hose erlebt. Schon das allein finde ich sehr bemerkenswert.
Mit ihr im Haus wohnt offenbar ein jüngerer Mann, vielleicht ihr Sohn, den man allerdings noch seltener zu Gesicht bekommt als sie. Bis vor einigen Monaten noch fuhr Hulda einen silbergrauen Wagen. Doch nun ist dieses Auto plötzlich verschwunden. Da macht man sich schon so seine Gedanken…, denn auch von dem jungen Mann fehlt irgendwie jede Spur. Nicht, dass er früher häufig in Erscheinung getreten wäre, aber ab und an konnte man ihn immerhin mal beim Rasenmähen beobachten.
Auto weg, Sohn verschwunden und Huldas merkwürdiges Verhalten in der letzten Zeit, geben mir nun doch Anlass zu verschiedenen Spekulationen:
Ist der junge Mann das Ergebnis einer leidenschaftlichen Urlaubsbekanntschaft vor vielen Jahren? Hat er vielleicht zufällig Hinweise auf seinen Vater gefunden, von dem Hulda ihm nie etwas erzählt hat ? Möglich, dass er sich nun in einem passenden Moment die Autoschlüssel organisiert und den Wagen geklaut hat. Jetzt ist er wahrscheinlich irgendwo auf dem Weg nach Süden und sucht dort nach seinem Vater?
Oder hat Hulda gar das Auto verkauft, um mit dem Geld eine Marihuanaplantage im oberen Stockwerk des Hauses anzulegen? Dafür spricht, dass ich sie in letzter Zeit des öfteren gesehen habe, wie sie sich gegen 9 Uhr von einem Wagen hat abholen lassen. Immer dabei eine braune Tasche, die sie eng an den Körper presst und nicht loslässt. Befindet sich darin vielleicht heiße Ware?
Möglich wäre auch , dass sich der Sohn in seiner sozialen Isolation langsam radikalisiert und dem IS angeschlossen hat. Nun erpresst er Geld von der Mutter, die verkauft in ihrer Not zuerst den Wagen und wer weiß, eventuell auch bald das ganze Haus?
Am Ende ist Hulda aber auch dem Glücksspiel verfallen? Bis vor ein paar Monaten, als Hulda das Auto noch hatte und auch selbst fuhr, konnte man beobachten, dass sie meist erst morgens früh nach Hause zurückkam. Bestimmt verbrachte sie die Nächte irgendwo am Spieltisch im Kasino. Aber was tut sie jetzt? Ob der Verkauf des Autos die Spielschulden überhaupt decken kann? Womöglich gehört schon das halbe Haus dem Kasino ????
Die morgendliche Rückkehr von wer weiß woher könnte natürlich auch Indiz für ihre Tätigkeit als Vorsitzende des „Vereins der perückentragenden Nachtschattengewächse Niedersachsens“ sein. Aber das ist dann vielleicht doch ein bisschen zu weit hergeholt.
Perücke und Sonnenbrille deuten wohl eher darauf hin, dass Hulda nicht erkannt werden möchte. Eine entkommene Verbrecherin, die den Sohn im Säuglingsalter entführt hat, um dann mit ihm hier in dieser ruhigen und beschaulichen Stadt unterzutauchen? Von solchen Fällen liest man ja immer mal wieder.
Gerade als ich dabei bin in all meine Beobachtungen und Hinweise ein wenig Ordnung und Struktur zu bringen, um endlich Huldas wahrer Identität auf die Spur zu kommen, passiert folgendes.
Zu einer für mich etwas ungewöhnlichen Zeit bin ich beim Bäcker gleich hier um die Ecke, und wer steht direkt vor mir an der Kuchentheke? Hulda! So nah war ich ihr noch nie, und ich muss gestehen, dass die Entfernung, aus der ich sie bisher betrachtet habe, wie ein gnädiger optischer Filter wirkte. Sie jetzt und so unvorbereitet aus direkter Nähe zu sehen, ist schon eine Herausforderung, aber es soll noch härter kommen. Denn kaum habe ich den visuellen Schock verdaut , werde ich unfreiwilig Zeuge eines Geprächs zwischen Hulda und der Bäckereifachverkäuferin .
Verkäuferin: „Ach wie schön Frau Knoll, sie so munter und fit zu sehen. Dann geht es ihnen wohl wieder besser, und das mit der ambulanten Reha hat schließlich doch noch geklappt?!
Hulda: „Ja danke, so langsam komme ich wieder auf die Beine. Ich hab aber auch kräftig trainiert 3x die Woche. Und außerdem ist inzwischen auch meine Rente durch, und ich bin endgültig im Ruhestand.“
Verkäuferin: „Was sie nicht sagen? Das freut mich ja für Sie. Endlich keine Nachtwachen mehr, das war ja auch ein Knochenjob.“
Hulda: „Ja, 37 Jahre Nachtwache im Krankenhaus, das muss reichen. Und dann noch die OP vor ein paar Monaten – genug ist genug! Solange meine Augen noch halbwegs mitmachen, werde ich jetzt mein Leben genießen. Autofahren darf ich ja nicht mehr. Ich hab den Wagen meinem Sohn gegeben. Der wohnt ja seit Anfang des Jahres bei seiner Lebensgefährtin und kann ihn gut gebrauchen“.
Verkäuferin: „Aber dann sind sie ja jetzt ganz allein im Haus, ist das nicht zu einsam?“
Hulda: „Das bleibt ja nicht lange so. Sobald ich renoviert habe, zieht oben ein junges Pärchen ein. Dann kommt wieder Leben ins Haus, und außerdem ist später auch jemand da, wenn ich mal verreist bin. Wissen sie, ich hab nämlich verschiedene Busreisen gebucht in der nächsten Zeit. Erst geht es an die Ostsee, dann ein Wochenende in den Harz und im September für ein paar Tage an die Mosel. Im Advent will ich zum ….
Ich lausche mit offenem Mund, vergesse dabei total, was ich eigentlich besorgen wollte, denn ich bin völlig fassungslos. Sollte Huldas Leben wirklich derart normal und unspektakulär sein? Ich kann und will es nicht glauben!
Natürlich gönne ich ihr den wohlverdienten Ruhestand, die erfolgreiche OP und alle Zukunftspläne, die sie hat, aber mal ehrlich, das ist ja alles so furchtbar gewöhnlich.
Da fand ich meine wilden Spekulationen doch irgendwie aufregender…
Hulda dreht sich zu mir um, und halb blind wie sie offenbar ist, übersieht sie den kleinen Stehtisch gleich neben dem Ausgang. Ihre Tasche fällt zu Boden, und der Inhalt verteilt sich zu meinen Füßen. Schlüsselbund, Augentropfen, Kugelschreiber, Tempotaschentücher und einige Visitenkarten. Selbstverständlich helfe ich ihr beim Einsammeln der verschiedenen Teile, und zufällig fällt mein Blick dabei auf eine dieser Karten. „ Ihre Zukunft in meinen Hände“ lese ich da und weiter „Tarotkarten, Kaffeesatz, Kristallkugel und Traumdeutung. Profitieren Sie von meiner jahrelangen Erfahrung und wagen Sie den Blick nach vorn.“ Daneben das Bild einer Frau in einem wallenden Gewand, die sich bei dämmrigem Licht über eine funkelnde Kristallkugel beugt. Ein wenig sieht sie aus wie Hulda. Womöglich ist es gar Hulda?
Wusste ich es doch!
Blitzschnell stecke ich eine dieser Karten ein, denn das ist eine Spur, der ich jetzt unbedingt nachgehen muss.