Tanzkreis
Man kennt das, irgendwann jenseits der Fünfzig kommt der Tag, an dem man sich dabei ertappt, Dinge zu tun, die man früher für derart reaktionär und spießig gehalten hat, daß es einem schon peinlich war, wenn die eigenen Eltern damit zu tun hatten.
Ganz allmählich und wie selbstverständlich schleichen sich solche Gewohnheiten nun im eigenen fortgeschrittenen Dasein ein, und wenn man sich ihrer bewußt wird, ist es meist schon zu spät.
Stichwort Tanzen.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie meine Eltern früher eine Zeit lang zur Tanzstunde gingen. Meine Mutter im braven hochgeschlossenen Tweedkleid mit Nylons an den Beinen und Pumps mit Pfennigabsätzen an den Füßen. Mein Vater im gediegenen Zweireiher mit ‚schwarze Rose Hemd’ und dezent gestreifter Krawatte.
Stattgefunden hat das Ganze im örtlichen Gemeindesaal, in dem auch am Wochenende der Gottesdienst abgehalten wurde.
Man war angestrengt und konzentriert bei der Sache, die Nachbarn waren schließlich ziemlich gut, und blamieren wollte man sich ja auf keinen Fall. Nach der Stunde gab es hin und wieder noch ein Schlückchen Eckes Edelkirsch oder ein Gläschen Cointreau, das hob die Stimmung und lockerte die Anspannung. Hätte man sich das gleich zu Beginn gegönnt, wäre die ganze Stunde vermutlich etwas unverkrampfter über die Bühne gegangen. So aber stand der Ernst im Vordergrund, und alle Teilnehmer waren mit größtem Ehrgeiz bei der Sache. Um in der nächsten Woche auch gut dazustehen, mußte natürlich zwischenzeitlich geübt werden. Also wurde das Wohnzimmer umgeräumt, Teppich zur Seite, Nierentisch raus, Stehlampe und Blumenhocker kamen in die Ecke, und der Plattenspieler wurde in Gang gesetzt. Zur Musik von Max Greger tanzten meine Eltern übers heimische Parkett. „Tanzen für Jedermann“ hieß die Platte, und eine sympathische Stimme gab die Schrittfolge an. Schon damals bot diese Form der zweisamen Betätigung großes Konfliktpotential. Meine Mutter fand die Schritte meines Vaters zu groß, er ihre zu klein, sie fand, daß Herr Becker seine Frau viel charmanter führte, er meinte, sie ließe sich ja gar nicht führen, sie behauptete, er hätte kein Taktgefühl und er war überzeugt, daß sie sowieso alles besser wüßte
Währenddessen hockte ich im Schlafanzug in unserem großen Ohrensessel und fragte mich, weshalb Erwachsene unbedingt tanzen wollen, wenn sie sich dabei sowieso nur streiten würden. Ziemlich unnütz fand ich das damals, zumal meine Eltern nie die Gelegenheit hatten (oder suchten) ihre Kenntnisse auch anzuwenden. Der einzige Vorteil für mich bestand darin, daß ich an den „Übungsabenden“ länger aufbleiben konnte, denn während der hitzigen ehelichen Diskussionen hatte man mich in der Regel völlig vergessen, und nicht selten schlief ich irgendwann zwischen Tango und Foxtrott im großen Ohrenbackensessel ein.
Heute, gut vierzig Jahre später, holt mich die Geschichte irgendwie wieder ein. Nicht, daß ich nun im Sessel einschlafe, das passiert zwar auch hin und wieder, nein, tanzen ist angesagt, und dieses Mal bin ich nicht belustigter Zuschauer, sondern aktiv mitten im Geschehen.
Aus einer spontanen nicht ganz nüchternen Idee heraus haben wir uns zusammen mit ein paar Freunden vor Jahre entschlossen doch mal wieder einen Tanzkurs zu machen. Bei den meisten lag diese Erfahrung ja schon Jahrzehnte zurück – also höchste Zeit für eine Auffrischung. Gesagt, getan, und das Unheil nahm seinen Lauf. Seitdem sind nun fast sechs Jahre vergangen, in denen es zeitweise wirklich hart zur Sache ging. Das Konfliktpotential hat sich seit den Tanzstunden meiner Eltern kaum geändert. Allerdings gab es bei uns bisher noch keinen Totschlag im Affekt, keine Scheidung, noch nicht mal eine Trennung, und so lange nichts derart vergleichbar Ernstes vorfällt, absolvieren wir weiterhin in jedem Winter, wenn die Abende so schön gemütlich und lang sind, unsere Tanzstunden.
Montagabend im Februar 2014. Ein geruhsames Wochenende liegt hinter und eine fast jungfräulich unschuldige Woche vor uns. Von draußen klatscht der Schneeregen an die Scheiben, aber drinnen ist’s kuschelig und warm. Wir sitzen in der Küche, genießen unser Abendbrot, während schon die Sehnsucht nach dem Sofa verheißungsvoll durch den Raum wabbert. Alles ist gut – wäre da nicht die winterwöchentliche Tanzstunde, die diese Idylle mächtig stört.
Seit gut fünf Jahren machen wir das nun schon (mit), immer in der dunklen Jahreszeit und mit dem ehrgeizigen Ziel, Körper und Geist nicht allzu tief im Winterschlaf versinken zu lassen. Im Prinzip eine gute Idee!
Seit gut fünf Jahren aber versichert mir mein lieber Mann vor jeder Stunde, daß er so gar keine Meinung dazu hat, sich wieder wie ein tapsiger Tanzbär übers Parkett zu bewegen, anstatt daheim gemütlich auf dem Sofa durch die verschiedenen TV-Programme zu steppen.
Mindestens genauso lange versuche ich ihn Woche für Woche liebevoll und geduldig zu motivieren. Das ist nicht einfach, denn Montagabends nach dem Abendessen, wenn es draußen schneit oder regnet und der Wind ungemütlich um die Häuser streicht, hab auch ich recht wenig Lust meine gemütlichen Haussocken gegen drückende Pumps zu tauschen, Lippenstift und Parfum anzuwerfen, um bei der zu erwartenden Blamage wenigstens halbwegs gepflegt auszusehen.
Fünf Paare treffen sich zur besten Feierabendzeit in der nahe gelegenen Tanzschule. Man nennt solche sich regelmäßig treffenden Gruppen auch „Tanzkreis“ und jeder, der ein bißchen weiter denkt, weiß, daß Tanzkreis so etwas wie Teufelskreis bedeutet, aus dem es bekanntermaßen so gut wie kein Entrinnen gibt.
Zu Beginn gibt man sich ja noch der naiven Illusion hin, daß sich die Sache erledigt hat, sobald man die paar Grundschritte der gängigen Standardtänze drauf hat. Dann, so die irrige Vorstellung, ist man der Star auf jedem Ball, tanzt auch die müdeste Party munter und bewegt sich nahezu schwebend übers Parkett, sobald auch nur die ersten Takte ertönen. Ganz so ist es nicht. Denn Tanzen ist Sport und zwar in erster Linie Denksport!
Wie sonst ist es zu erklären, daß man sich als halbwegs intelligenter Mensch Woche für Woche dieselben Schrittfolgen neu erarbeiten muß, daß man Woche für Woche das Gefühl nicht los wird in der ersten Stunde zu sein und etwas vollkommen Neues zu hören.
Mal fängt der Herr mit links, die Dame mit rechts an, mal fangen beide mit dem gleichen Fuß an, und oft genug können wir mit unseren Füßen so rein gar nichts anfangen. Es ist, als ob man eine neue Sprache lernt und jedes Mal kommen neue Ausdrücke dazu. Da gibt es offene oder geschlossene Promenaden, Flechten, Brezeln, Kreisel, außenseitige Kehren und hinterhältige Wechsel, rechts und links Drehungen, Wiegeschritte und Würgegriffe.
Hat man die Schritte halbwegs begriffen, kommt noch erschwerend die Musik hinzu. Beides vernünftig zu koordinieren ist wahrlich nicht leicht. Da kann einem der schönste Walzer zum akustischen Feind werden, und die eigentlich beschaulich dahinfießende Moldau mutiert zu einem reißenden Strom, der alles niederreißt, bloß weil wir mit unseren Füßen im wahrsten Sinne des Wortes ‚nicht Schritt halten können’.
Anders als meine Eltern damals verzichten wir auf Übungsstunden im heimischen Wohnzimmer, allerdings sind wir auch unverfroren genug unser tänzerisches Können ab und zu einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. So geschehen, als wir vor geraumer Zeit einen Ball – Gott sei Dank fern ab der Heimat – besuchten. Ein wunderbares Orchester spielte dort zum Tanz und es spielte u.a. auch einen Tango. Unser Favorit unter den erlernten Tänzen, taktmäßig klar zu erkennen und von der Schrittfolge auch halbwegs einprägsam. Dame links, Herr rechts, laaaang,laaaang, Wie-ge-schritt, rück-seit- Schluß usw.
Während also fast alle anderen Paare gleich nach den ersten Takten fluchtartig die Tanzfläche verließen, Tango gehört für die meisten wohl eher nicht zu den Lieblingsrhythmen, stürzten wir uns wagemutig ins Geschehen und hatten die darauf folgende Blamage dann auch ganz für uns allein. Irgendwie klappte nämlich gar nichts. Die Schrittfolgen, so wir sie überhaupt erinnerten, gerieten uns total durcheinander, Dame passte nicht zu Herr, und die Musik nahm natürlich keinerlei Rücksicht darauf. Was uns bisher klar und tanzbar erschien, endete hier vor großem Publikum in einem ziemlichen Desaster. Da halfen weder Ballkleid noch Smoking, nicht high-heel noch Lackschuh – im Gegenteil!
Man möchte solche Erfahrungen nicht allzu oft machen, und so kehrten wir nach diesem Erlebnis ziemlich demoralisiert wieder mal zur unserer gefühlten soundsovielten ersten Tanzstunde zurück.
Alles nochmal von vorne und der geduldige Tanzlehrer wird nicht müde, uns die Schritte wieder und wieder vorzubeten. Natürlich verdient er an unserer Begriffstutzigkeit, aber er ist taktvoll genug, sich darüber nur im Geheimen zu freuen.
Zum Ende des Winters sind wir dann in der Regel alle soweit, daß wir mit sanfter Unterstützung unseres Tanzlehrers die Grundschritte, und an guten Tagen auch noch die eine oder andere komplizierte Figur, nachtanzen können. „Betreutes Tanzen“ heißt der im Schweiße vieler montäglicher Tanzstunden nun erreichte Level. Den über die Sommermonate zu halten ist nicht einfach und der Entschluß im kommenden Herbst wieder neu einzusteigen auch nicht. Aber, so stellt der clevere Teilnehmer fest: Tanzkreis ist zwar ein bißchen Teufelskreis, aber „betreutes Tanzen“ ist immer noch bessser als „betreutes Wohnen“ und bis wir soweit sind, können wir hoffentlich noch die eine oder andere Sohle aufs Parkett legen – vielleicht irgendwann auch mal ganz ohne Tanzlehrer.