Fundstücke
Der Sekretär in meinem Arbeitszimmer ist mindestens dreimal so alt wie ich und ein gründliches „facelifting“ steht ihm schon von daher auf jeden Fall eher zu als mir.
Diesen tischlerkosmetischen Eingriff (für eben diesen Sekretär) bekam ich nun zu meinem letzten Geburtstag geschenkt, was zunächst einmal bedeutete, daß ich für einige Wochen meiner gedanklichen, geistigen und irgendwie mentalen Zufluchtsstätte beraubt wurde. Das gute Stück ging nämlich sozusagen auf die Schönheitsfarm, und ich blieb ziemlich
heimatlos zurück. Dazu muss man wissen, dass ich einen großen Teil meiner Zeit mit und an diesem Möbelstück verbringe. Hier steht mein PC, hier lese ich meine mails, skype mit meinen Kindern, surfe im Internet, schreibe Tagebuch und Briefe, formuliere irgendwelche Texte, überlege mir meine „to do Listen“, sammle Postkarten für jedwede Anlässe, sortiere Photos, und manchmal sitze ich einfach nur da und denke so vor mich hin…
Vor der Tennung auf Zeit galt es nun also das ganze gute Stück auszuräumen und den Inhalt aller 13 Schubladen sorgsam in verschiedene Kisten zu verpacken, damit dann später auch alles wieder seinen Platz finden würde. Klar, daß man bei so einer Aktion das eine oder andere aussortiert und Überflüssiges wegwirft, aber man macht eben unter Umständen auch sehr interessante Entdeckungen. Und so habe ich in den Tiefen dieses alten Schrankes einige längst vergessene Fundstücke entdeckt, die mir nochmal ihre ganz eigene Geschichte erzählten.
Das Photo meiner Großmutter
Das Photo meiner Großmutter rutschte aus einem Stapel alter Postkarten, weiß der Himmel, wie es dort dazwischen geraten ist. Es ist eine alte Schwarzweißfotografie, noch mit dem schön weißgezackten Rand und zeigt meine Oma zusammen mit ihrer Schwester.
Als das Bild aufgenommen wurde, da war meine Großmutter etwa genau so alt wie ich heute, und – jetzt kommt das Beste: auf dem Bild sieht man zwei uralte Tanten, die ein bißchen aussehen wie retrogetrimmte Vogelscheuchen auf dem Weg zu einer Shoppingtour. Stocksteif stehen sie da mit ihren schwarzen Kostümen und den riesigen weißen Kragen, die so dick und aufgeplustert aussehen wie ein aufgeschlitztes Kopfkissen. Und natürlich zeigt keine von beiden auch nur den Anflug eines Lächelns. Todernst schauen sie unter ihren verbeulten Hüten hervor, nur die Handtasche baumelt halbwegs locker über dem linken Unterarm und in der rechten Hand…., ja was seh ich denn da? Man mag es nicht glauben, in der rechten Hand hält jede der beiden Ladys einen leeren Bierkrug.
Sollte ich mich täuschen und hatten sich die beiden da eben mal ein Bierchen genehmigt ??
Ja, wo blieb denn da die Contenance?
Wie dem auch sei, alt sahen die zwei Ladys in jedem Falle aus, nach heutigen Maßstäben sogar steinalt, und daran konnte auch die Freude über ein heimliches Bierchen nichts ändern.
Aber was mich angeht, so werde ich dieses Foto noch ein Weilchen aufheben und immer, wenn ich mal wieder einen dieser schlechten Tage habe, an denen man sich so elend, mürbe und verbraucht fühlt, dann werde ich es anschauen und mir sagen: „Deine Oma war damals genau so alt wie du heute, nur mit dem Unterschied, sie sah noch so unheimlich viel älter aus, als du dich gerade fühlst!“
Wenn das dann kein Trost ist?!
Gästebuch
In einer anderen Schublade schlummert ein Gästebuch. So etwas hat heute auch kein Mensch mehr. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, dass früher bei uns eigentlich kein Besuch abreisen durfte ohne vorher seinen Eintrag in besagtes Buch getätigt zu haben. Die Qualität dieser Ergüsse war dann oft von großer Bandbreite und manchmal hätte man dem vermeintlichen Poeten auf der Durchreise vielleicht ein bißchen mehr Muße gewünscht oder noch besser, den Mut das Dichten lieber ganz sein zu lassen.
Aber man muss auch sagen, manche Beiträge damals waren durchaus phantasievoll, lustig und zum Teil noch mit aufwendigen Skizzen oder Bildern versehen. Der eine oder andere Gast hat sich da richtig ins Zeug gelegt und mit seinem Eintrag ins goldene Buch des Hauses für bleibende Erinnerung gesorgt. All diese Widmungen hatten natürlich stets das große Lob auf die Gastfreundschaft des Hauses und die unvergleichlich gute Küche der Hausfrau gemein. Das liest man dann auch noch nach Jahren gern, selbst wenn es noch so liebevoll geheuchelt war.
Nach irgendeinem Umzug haben wir – warum auch immer – das Gästebuch nicht mehr so konsequent fortgeführt, was man unschwer daran erkennen kann, dass es seit mindestens 20 Jahren keine Einträge mehr gibt.
Besucher hatten wir in dieser Zeit allerdings mehr als genug, nur verewigt haben sie sich dann wohl auf andere Art und Weise. Mit einem vergessenen Regenschirm, einem Fleck auf demTeppichboden, einem markanten Kratzer im Glastisch, der verstopften Toilette, mit einem Rosenbäumchen, das unermüdlich blüht, vielen geleerten Weinflaschen, dem selbstgemalten Bild, wofür wir immer noch keinen Platz gefunden haben, weil sich uns die künstlerische Tiefe einfach nicht erschließen will, einem Paar zurückgelassener vollaromatischer Socken oder eben meistens durch ganz viele schöne Erinnerungen.
Vielleicht doch ein bisschen schade das mit dem Gästebuch, auch wenn es im Augenblick wohl nicht mehr so wirklich im Zeitgeist liegt. Eventuell könnte man ja mal über eine App in dieser Richtung nachdenken, die gibt es ja schließlich inzwischen für alles mögliche.
Ein Stapel Papier mit hellblauem Band
Jeder normale Mensch würde bei dieser Beschreibung sofort an alte Liebesbriefe denken. Weit gefehlt! Bei diesem Fund handelt es sich um ein ganz dunkles Kapitel meiner Vergangenheit. Es sind die gesammelten Mathearbeiten aus der Oberstufe, ein Blick hinein genügt, und ich weiß, dass sich an diesem Albtraum seit 40 Jahren nichts geändert hat.
Was mir da entgegenschaut, vermag mich auch heute noch in Angst und Schrecken zu versetzen.
Wie konnte ich jemals auch nur Teile dieser Hieroglyphen und ihrer Zsammenhänge verstehen???
Man muss wissen, Zahlen und ich sind bis heute nicht die beste Kombination, und es gibt eindeutig Dinge, mit denen ich besser umgehen kann als mit Zahlen, z. B. mit Schuhen, mit bunten Blumen, mit freundlichen Menschen, mit schönen Dingen, vielleicht auch mit netten Worten, aber Zahlen, das ist nun wirklich nicht so mein Ding. Da fehlt mir einfach eine Windung im Gehirn. Leider hat man das erst relativ spät erkannt, und so war ich dann schon in einer mathematischen Oberstufenklasse gelandet – dumm gelaufen für mich und erst recht für meinen Lehrer. Dieser liebe geduldige Mensch musste sich dann drei Jahre lang mit mir herumschlagen und hat es schließlich doch fertig gebracht, mir mit unendlicher Geduld die Faszination seines Faches wenigstens so nahe zu bringen, dass es zu einer bestandenen Prüfung reichte. Dafür gebührte ihm eigentlich fast der Nobelpreis, und wenn es der schon nicht sein konnte, dann doch vielleicht postum eine Art Liebesbrief an einen alten, unvergessenen und sehr besonderen Lehrer, der allerdings noch zu formulieren wäre,
….und so fände denn auch das hellblaue Band letztendlich irgendwie doch noch zu seiner Bedeutung.
Poesiealbum
In der letzten Schublade liegt noch mein altes Poesiealbum aus der Grundschule. Auch wenn ich mich an die Gesichter zu den einzelnen Namen kaum noch oder eigentlich gar nicht mehr erinnern kann, finde ich es doch bemerkenswert, mit wieviel Mühe und Sorgfalt die einzelnen ihre Einträge und Seiten gestaltet haben. Mit getrockneten und gepressten Blumen, die jetzt natürlich alle zu Staub zerfallen sind und munter herausbröseln, bunten Lackbildchen bis hin zu gemalten oder geklebten kleinen Kunstwerken aus Seidepapier oder dünner Pappe. Dazu lange und in Schönschrift verfasste Verse. Ich gebe zu, ich war da nie so der Star, und meine beste Freundin aus Kindertagen hat schon damals nicht ganz zu Unrecht festgestellt, dass ich es mir mit meinem Dauereintrag „edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ ziemlich einfach gemacht habe.
Das kann man von Reinhold H. nicht sagen. Er ist der einzige, an den ich mich noch genau erinnern kann, denn Reindold war einfach einzigartig!
Reinhold war der Sohn unseres Metzgers im Ort. Er hatte pumuckelrote Haare, ein Gesicht voller Sommersprossen, schrecklich abgebissene Fingernägel, eine dunkelbraune Cordhose mit schwarzen Lederflecken an den Knien, fürchterlich abgetretene Schuhe, und er hatte einen roten Anorak mit ganz vielen Taschen. In jeder Tasche dieses Anoraks hielt er immer eine große Auswahl verschiedenster Würstchen bereit, und wenn man mit ihm unterwegs war, hatte man stets etwas zu essen. Das sprach eindeutig für ihn und ließ mich über so manche Äußerlichkeit großzügig hinwegsehen.
Reinhold mochte mich sehr, wogegen mich wohl mehr, wenn ich ganz ehrlich bin, die Würstchen in seinem Anorak faszinierten, aber das tut ja hier nichts zur Sache.
Jedenfalls schrieb mir dieser Knabe, sicherlich nach gründlicher Überlegung und im reifen Alter von 9 Jahren folgende Zeilen in mein Poesiealbum: „Ich will dich lieben schönstes Licht bis mir das Herze bricht!“ Das Ganze hat er dann noch liebevoll mit verschiedenen Würstchenmotiven in den unterschiedlichsten Farben und Formen illustriert.
Also mal ehrlich, ist das nicht schön? Da kommen mir noch heute fast die Tränen.
All diese Fundstücke werden auch nach der Restaurierung wieder ihren Platz in meinem Sekretär finden, denn auch für dieses besondere Möbelstück gilt:
Nicht nur der äußere Schein ist wichtig, auch was drin ist, zählt!
Eine wunderschöne Geschichte – ich will auch so einen Sekretär!!!!
Bei den Erinnerungen fallen ein gleich eigene Erinngerungen ein.
Toll!